Wie man mit Obsidian sein Wissen in Struktur verwandelt

Wissen zu sammeln ist heute nicht das Problem – im Gegenteil. Artikel, PDFs, Mails, Chatverläufe, Kurse, Videos, Notizen aus Meetings… alles landet irgendwo. Das eigentliche Problem ist: Wie verwandle ich diesen Haufen Informationen in ein vernetztes, lebendiges Wissenssystem, das mich im Alltag unterstützt?

Genau hier glänzt Obsidian: Es ist kein weiteres „Notiz-Heft“, sondern eher ein Betriebssystem für dein Wissen – sofern du es richtig aufsetzt und bewusst strukturierst.

In diesem Artikel schauen wir uns an:

  1. Grundprinzip: Warum Dateien + Links so mächtig sind
  2. Ordner, Tags, Links – die drei Ebenen der Struktur
  3. Wissensbausteine: Notiz-Typen, die du brauchst
  4. Mögliche Ordnungsmodelle: Zettelkasten, PARA & Co.
  5. Praktischer Workflow: Vom Input zur strukturierten Notiz
  6. Fortgeschritten: Dataview, Templates & Automatisierung
  7. Typische Fehler – und wie du sie vermeidest

1. Grundprinzip: Warum Obsidian mehr ist als ein Notizblock

Obsidian arbeitet mit einfachen Markdown-Dateien in einem Ordner (deinem „Vault“). Diese Dateien gehören dir, sie sind plattformunabhängig und mit jedem Editor lesbar. Das ist ein riesiger Vorteil gegenüber geschlossenen Systemen.

Drei Dinge machen Obsidian so stark:

  • Bidirektionale Links: Du verlinkst Notizen wie im Wiki ([[Thema XY]]) – und siehst automatisch, von wo sie referenziert werden („Backlinks“).
  • Grafmodus & Netzwerke: Du erkennst Muster in deinem Denken, weil verbundene Themen sichtbar werden.
  • Offener Aufbau: Du entscheidest selbst, wie dein System aussehen soll – minimalistisch oder hochautomatisiert mit Plugins.

Struktur entsteht dabei nicht nur durch Ordner, sondern vor allem durch Verbindungen.


Den größten Hebel bekommst du, wenn du diese drei Ebenen klar trennst:

2.1 Ordner – die stabile, grobe Struktur

Ordner solltest du sparsam und stabil halten. Sie sind das „Regal“, nicht das „Inhaltsverzeichnis“.

Typische Top-Level-Ordner:

  • 00_Inbox – alles, was noch nicht verarbeitet ist
  • 10_Notizen – laufende Arbeitsnotizen, Meeting-Notizen, Ideen
  • 20_Wissen – ausgearbeitete Wissensartikel / „Evergreen Notes“
  • 30_Projekte – Notizen zu aktiven Projekten
  • 40_Archiv – Abgeschlossenes, Referenzmaterial

Wichtig: Lieber wenige, klare Ordner als ein fein ziseliertes Chaos.


2.2 Tags – kontextbezogene Filter

Tags sind wie Etiketten, die quer durch alle Ordner funktionieren. Am sinnvollsten sind:

  • Status-Tags wie #status/idee, #status/entwurf, #status/fertig
  • Meta-Tags wie #typ/projekt, #typ/artikel, #typ/zitat
  • Kontext-Tags wie #kontext/arbeit, #kontext/privat, #kontext/lernen

Nutze Tags eher funktional als „Themenliste“. Themen gehören primär in Links und Titel, nicht in eine unendliche Tag-Wolke.


Die wahre Kraft von Obsidian entsteht durch Links. Ein paar Prinzipien:

  • Verlinke Begriffe, Konzepte, Personen, Projekte: [[Agilität]], [[Hypnose]], [[Projekt XYZ]].

  • Nutze Kontext-Links im Text, nicht nur Listen:

    „Diese Idee erinnert an das Prinzip der [[Serendipität]] im [[Zettelkasten-System]].“

  • Verwende Backlinks-Bereich, um zu schauen: Wo taucht dieses Thema überall auf?

Struktur entsteht weniger durch „Sortieren“, mehr durch Verbinden.


3. Wissensbausteine: Welche Notiz-Typen sinnvoll sind

Um aus losem Kram ein System zu machen, hilft es, verschiedene Notiz-Typen zu unterscheiden.

3.1 Inbox-Notizen (Rohinput)

Alles, was du schnell festhalten willst:

  • Gedankenblitze
  • Links
  • Zitate
  • Meeting-Scribbles

Regel: „Capture now, refine later.“ Du musst nicht sofort entscheiden, wohin etwas gehört – Hauptsache, es landet nicht im Kopf-Chaos oder zig verschiedenen Apps.


3.2 Fleeting Notes (Kurznotizen)

Das sind Notizen, die einen Gedanken fixieren, aber noch nicht ausgearbeitet sind:

  • Kurzdefinitionen („Was habe ich gerade gelernt?“)
  • Erste Verknüpfungen („Erinnert an [[Flow-Zustand]] und [[Motivation]].“)
  • Offene Fragen (- [ ] Wie passt das zu …?)

Sie sind das „Rohmaterial“ für deine Wissensartikel.


3.3 Evergreen Notes (dauerhafte Wissensartikel)

Das sind ausformulierte, eigenständige Notizen, die länger relevant bleiben:

  • „Was ist Servant Leadership?“
  • „Prinzipien von Flight Levels“
  • „NLP: Ankern in einfachen Schritten“

Merkmale:

  • Eigener Titel, der wie ein Mini-Artikel klingt
  • Enthält eigene Worte, nicht nur Zitate
  • Hat Links zu verwandten Konzepten
  • Wird immer wieder überarbeitet & verbessert

Du verwandelst damit Information in Wissen – also in verarbeitete, vernetzte Inhalte.


3.4 Projekt-Notizen

Für jedes Projekt eine zentrale Notiz, z. B. [[Projekt Webseite Coach]]:

  • Ziele
  • To-dos
  • Entscheidungen
  • Logs („Was habe ich wann gemacht?“)
  • Links zu Meetings, Mails, Dokumenten

So bekommst du für jedes Projekt ein „Cockpit“ und bist nicht auf zig verstreute Dateien angewiesen.


4. Ordnungsmodelle: Zettelkasten, PARA & Co.

Obsidian ist flexibel genug, verschiedene Denkmodelle abzubilden. Drei bekannte Ansätze:

4.1 Zettelkasten („Denken in Notizen“)

Der Zettelkasten-Ansatz (nach Niklas Luhmann) fokussiert auf:

  • Kleine, atomare Notizen
  • Jede Notiz hat eine Idee
  • Notizen sind stark untereinander verlinkt
  • Es gibt keine starre Hierarchie – eher ein Netzwerk

In Obsidian bedeutet das:

  • Viele kleine Evergreen Notes, statt lange Sammel-Dokumente
  • Intensive Nutzung von Links und Backlinks
  • Ideen entstehen aus der Verknüpfung, nicht aus „Ordnerlogik“

4.2 PARA (Projects – Areas – Resources – Archives)

PARA (u. a. von Tiago Forte) ordnet alles nach Umsetzungskontext:

  • Projects – aktuell laufende Aufgaben mit Ziel und Deadline
  • Areas – Verantwortungsbereiche (Gesundheit, Finanzen, Arbeit, Familie…)
  • Resources – Referenzmaterial, das hilfreich sein kann
  • Archives – alles, was abgeschlossen oder „ehemals wichtig“ ist

In Obsidian:

  • Ordner wie Projects, Areas, Resources, Archives
  • Evergreen Notes können z. B. unter Resources liegen
  • Aktive Dinge wandern in Projects

4.3 Hybride Ansätze

Die meisten nutzen irgendwann eine Mischform:

  • Oben PARA-Struktur in Ordnern
  • Innen drin Zettelkasten mit vernetzter Wissensbasis
  • Dazu Daily Notes als Zeitachse der eigenen Arbeit

Wichtig: Es gibt kein „perfektes“ System – nur eines, das für dich funktioniert und sich weiterentwickeln darf.


5. Praktischer Workflow: Vom Input zur strukturierten Notiz

Schauen wir uns einen möglichen Alltag-Workflow an, wie du Informationen in Struktur verwandelst.

5.1 Schritt 1: Sammeln (Capture)

Quellen:

  • Artikel, die du liest
  • Gespräche und Meetings
  • Kurse, Bücher, Podcasts
  • Eigene Gedanken

Alles landet zunächst in:

  • 00_Inbox oder
  • der Tagesnotiz (Daily Note), z. B. 2025-11-13

Du schreibst erst mal „unsauber“: Bullet-Points, Zitate, Links, Voice-to-Text. Hauptsache, es ist drin.


5.2 Schritt 2: Verarbeiten (Process)

Am besten einmal täglich oder mehrmals pro Woche:

  1. Öffne deine Inbox / Daily Notes.

  2. Frage dich:

    • Ist das belanglos? → Löschen.
    • Ist das projektbezogen? → In eine Projekt-Notiz überführen & verlinken.
    • Ist das ein dauerhafter Gedanke / Konzept? → Evergreen Note erstellen.
  3. Beim Überführen:

    • in eigene Worte fassen
    • passende Links setzen
    • ggf. Status-Tag vergeben (#status/idee, #status/entwurf)

So entsteht nach und nach ein Netz an wichtigen Notizen.


5.3 Schritt 3: Verknüpfen (Connect)

Wenn du eine Evergreen Note schreibst, stelle dir Fragen wie:

  • Woran erinnert mich das?
  • Welche anderen Notizen habe ich dazu?
  • Gibt es Gegenbeispiele oder andere Sichtweisen?

Und setze dann Links zu:

  • vergleichbaren Konzepten
  • übergeordneten Themen
  • Praxisbeispielen
  • Personen oder Projekten

Je mehr Kontext, desto wertvoller die Notiz.


5.4 Schritt 4: Aktualisieren (Refine)

Regelmäßig (wöchentlich / monatlich):

  • Daily Notes durchgehen – was sind Highlights?
  • Evergreen Notes updaten – Erkenntnisse ergänzen
  • Veraltete Notizen taggen: #status/archiv

Dein Wissenssystem ist niemals „fertig“, sondern eher ein Garten, den du pflegst.


6. Fortgeschritten: Dataview, Templates & Automatisierung

Obsidian wird richtig mächtig, wenn du strukturiertes Frontmatter und ein paar Plugins nutzt.

(Hinweis: Plugins müssen in den Einstellungen aktiviert werden und kommen aus der Community. Nutze sie bewusst.)

6.1 Frontmatter: Struktur im Kopf der Notiz

Oben in der Notiz kannst du YAML-Frontmatter nutzen:

---
title: Servant Leadership
typ: artikel
themen: [Leadership, Agilität]
status: fertig
erstellt: 2025-11-13
zuletzt_bearbeitet: 2025-11-13
---

Vorteile:

  • Du kannst nach typ, status, themen filtern
  • Plugins wie Dataview oder Tasks können darauf zugreifen

6.2 Templates: Wiederkehrende Muster automatisieren

Mit dem Templates-Plugin oder Templater kannst du Standard-Strukturen erzeugen, z. B.:

  • Artikel-Template
  • Meeting-Template
  • Projekt-Template
  • Tages- und Wochenreflexion

Beispiel Artikel-Template (vereinfacht):

---
title: {{title}}
typ: artikel
status: idee
themen: []
erstellt: {{date:YYYY-MM-DD}}
---

# {{title}}

## Kernaussage


## Hintergrund


## Verknüpfte Konzepte

- [[...]]
- [[...]]

So stellst du sicher, dass deine Notizen konsistent aufgebaut sind.


6.3 Dataview: Dein persönliches Wissens-Dashboard

Mit dem Dataview-Plugin kannst du aus deinen Notizen Tabellen, Listen und Übersichten generieren, z. B.:

  • Alle Artikel-Notizen mit Status entwurf
  • Alle Meeting-Notizen der letzten 30 Tage
  • Alle Projekt-Notizen, sortiert nach Datum

Beispiel:

TABLE status, themen, erstellt
FROM "20_Wissen"
WHERE typ = "artikel"
SORT erstelleD DESC

Dadurch wird Obsidian zu einem flexiblen Wissens-Frontend, nicht nur zu einem Ordner mit Dateien.


6.4 Tasks & Co.: Operative Arbeit integrieren

Mit Plugins wie Tasks kannst du Aufgaben systemübergreifend verwalten:

  • Aufgaben mit - [ ] in beliebigen Notizen
  • Filter nach due date, tags, priority
  • Automatische Übersichten („Was steht heute an?“)

Damit wächst Obsidian von der reinen Wissensbasis zu deinem Arbeits-Cockpit.


7. Typische Fehler – und wie du sie vermeidest

Zum Schluss noch ein paar typische Stolperfallen:

7.1 Zu viel Struktur von Anfang an

Wenn du mit 20 Ordnern, kompliziertem Tag-System und 50 Templates startest, bist du bald überfordert. Besser: klein anfangen, nachjustieren.

7.2 Alles sammeln, nichts verarbeiten

Viele nutzen Obsidian nur als „Abladeplatz“. Lösung: Feste Zeiten für Review & Verarbeitung einplanen (z. B. „Wissenspflege-Freitag“).

7.3 Keine eigenen Worte

Reines Copy & Paste führt nur zu einer privaten Wikipedia, die du nie liest. Magisch wird es erst, wenn du Dinge in deinen Worten zusammenfasst und mit deinem Leben / deinen Projekten verknüpfst.

Jede Notiz, die keine Links hat, ist ein bisschen „Blinder Fleck“ im System. Frage dich bei neuen Notizen: Womit hängt das zusammen? – und setze mindestens 2–3 Links.


Fazit: Wissen in Struktur verwandeln heißt, Denken sichtbar machen

Obsidian ist kein Selbstzweck und keine perfekte Ordnungsmaschine. Es ist ein Werkzeug, um dein Denken sichtbar und weiterentwickelbar zu machen.

Wenn du:

  • Informationen konsequent sammelst,
  • regelmäßig verarbeitest,
  • Notizen vernetzt,
  • und mit einfachen Strukturelementen (Ordner, Tags, Links, Frontmatter) arbeitest,

entsteht nach und nach ein persönliches Wissensnetz, das dir hilft, schneller Zusammenhänge zu erkennen, bessere Entscheidungen zu treffen und deine eigenen Ideen zu schärfen.