(oder: Warum wir oft ganz anderes hören, als der andere meint)
Wenn von Schulz von Thun gesprochen wird, ist fast immer das Vier-Seiten-Modell gemeint – auch bekannt als Kommunikationsquadrat, Vier-Ohren-Modell oder umgangssprachlich (fälschlich) „Vier-Augen-Modell“. Gemeint ist immer dasselbe: Jede Äußerung, die ein Mensch macht, hat vier Seiten – und jeder Mensch hört mit vier Ohren gleichzeitig. (Wikipedia)
Dieses Modell ist seit den 1980er-Jahren eines der einflussreichsten Instrumente der Kommunikationspsychologie und wurde von Friedemann Schulz von Thun im ersten Band von „Miteinander reden“ beschrieben.(Wikipedia)
1. Die Grundidee: Vier Seiten einer Nachricht
Nach Schulz von Thun besteht jede Nachricht – egal ob ein Satz, ein Blick, ein Seufzen oder eine Geste – immer aus vier Ebenen:(Wikipedia)
- Sachinhalt – Worüber informiere ich?
- Selbstoffenbarung / Selbstkundgabe – Was gebe ich von mir preis?
- Beziehung – Was halte ich von dir? Wie stehe ich zu dir?
- Appell – Wozu möchte ich dich veranlassen?
Diese vier Aspekte sind immer gleichzeitig in jeder Nachricht enthalten – bewusst oder unbewusst, deutlich oder versteckt.
Schulz von Thun beschreibt das bildlich mit zwei Metaphern:
- Der Sender spricht aus vier Schnäbeln (vier Seiten der Nachricht).
- Der Empfänger hört mit vier Ohren (vier Interpretationsweisen).
Und genau hier entstehen Missverständnisse: Der Sender glaubt, er habe „nur sachlich“ gesprochen – der Empfänger hört vielleicht vor allem auf dem Beziehungs-Ohr oder dem Appell-Ohr.
2. Die vier Seiten im Detail
2.1 Sachebene – „Worüber ich informiere“
Auf der Sachebene geht es um Daten, Fakten, Informationen.
Beispiele:
- „Es ist 18 Uhr.“
- „Dein Bericht hat fünf Seiten.“
- „Der Termin wurde verschoben.“
Der Sender sollte hier für Klarheit und Verständlichkeit sorgen: Ist die Aussage wahr? Relevant? Vollständig genug?
Der Empfänger prüft mit seinem Sach-Ohr:
- Stimmt das?
- Ist das wichtig?
- Fehlen Informationen? (Wikipedia)
In vielen beruflichen Kontexten wird so getan, als würde Kommunikation „nur“ auf dieser Ebene stattfinden – tatsächlich sind die anderen drei Seiten aber immer mit im Spiel.
2.2 Selbstoffenbarung – „Was ich von mir preisgebe“
Jede Äußerung ist zugleich eine Selbstdarstellung – bewusst oder unbewusst:
-
„Ich habe deinen Bericht noch nicht gelesen.“
- Sachlich: Der Bericht ist ungelesen.
- Selbstoffenbarung: Vielleicht Stress, Überforderung, andere Prioritäten, vielleicht auch Unlust.
-
„Das ist aber mutig von dir.“
- Sachlich: Du tust etwas, das Risiko hat.
- Selbstoffenbarung: Ich bewerte das; vielleicht bewundernd, vielleicht kritisch.
Schulz von Thun betont, dass Menschen immer gleichzeitig gewollt und ungewollt etwas von sich zeigen – vergleichbar mit dem Johari-Fenster.(Wikipedia)
Das Selbstoffenbarungs-Ohr hört z. B.:
- Wie geht es dir?
- Woran glaubst du?
- Wovor hast du Angst?
- Welche Haltung hast du gerade?
Für gelingende Kommunikation ist es hilfreich, wenn Menschen Ich-Botschaften senden („Ich fühle mich…“, „Ich brauche…“), statt versteckte Angriffe oder Vorwürfe mitzusenden.
2.3 Beziehungsebene – „Was ich von dir halte“
Auf der Beziehungsebene schwingt in jeder Nachricht mit, wie wir zueinander stehen – durch:
- Wortwahl
- Tonfall
- Gestik, Mimik, Körperhaltung
- Distanz oder Nähe
Beispiele:
- „Gib mir bitte mal das Salz.“ – freundlich, lächelnd, gleichwertiger Ton → wertschätzende Beziehung.
- „Na, endlich bist du auch da.“ – spöttisch, Augenrollen → abwertende Botschaft.
Das Beziehungs-Ohr fragt permanent:
- Wie siehst du mich?
- Respektierst du mich?
- Nimmst du mich ernst?
- Bist du mir wohlgesonnen oder feindlich?(Wikipedia)
Viele Konflikte eskalieren, weil Menschen scheinbar harmlose Sachaussagen als Verletzung der Beziehungsebene hören – oder weil tatsächlich subtil abwertende Beziehungssignale gesendet werden.
2.4 Appellebene – „Wozu ich dich bringen möchte“
Die Appellebene beantwortet die Frage: Was soll der andere tun, denken oder fühlen?(Wikipedia)
Appelle können sein:
- Offen: „Kannst du bitte den Müll rausbringen?“
- Indirekt: „Der Müll ist ja schon wieder voll…“ (unausgesprochen: Bitte bring ihn raus.)
- Emotional: „Wenn du mich lieb hättest, würdest du…“
- Manipulativ: verdeckte Veranlassungen, Schuldgefühle, Druck.
Das Appell-Ohr fragt:
- Was soll ich jetzt tun?
- Welche Erwartung steht dahinter?
- In welche Richtung will der andere mich bewegen?
Viele Menschen senden Appelle verdeckt, weil sie gelernt haben, direkte Wünsche seien „unhöflich“ oder „zu fordernd“. Das macht Kommunikation oft anstrengender und konfliktanfälliger.
3. Das Vier-Ohren-Modell: Wie Missverständnisse entstehen
Schulz von Thun erweitert das Vier-Seiten-Modell zum Vier-Ohren-Modell: Jeder Mensch kann dieselbe Nachricht vor allem mit einem bestimmten „Ohr“ hören – je nach Persönlichkeit, Prägung, aktueller Stimmung oder Beziehung.(Wikipedia)
Klassische Beispiele
-
„Die Ampel ist grün!“ – Beispiel von Schulz von Thun(Wikipedia)
- Sachseite (Sender): „Die Ampel hat auf Grün geschaltet.“
- Appellseite: „Fahr los!“
- Beziehung: „Ich traue dir nicht zu, das selbst zu bemerken.“
- Selbstoffenbarung: „Ich bin ungeduldig / habe es eilig.“
Hört die Fahrerin vor allem mit dem Beziehungs-Ohr, könnte sie denken:
„Er hält mich für unfähig. Er bevormundet mich.“ Und antwortet vielleicht gereizt: „Fährst du oder fahre ich?“
-
„Der Mülleimer ist ja schon wieder voll.“
- Sachinhalt: Der Eimer ist voll.
- Appell: „Leere bitte den Mülleimer.“
- Beziehung: „Ich erwarte das von dir / Du kommst deiner Aufgabe nicht nach.“
Wenn der andere nur mit dem Sach-Ohr hört, denkt er vielleicht:
„Stimmt, er ist voll.“ – und macht trotzdem nichts. Mit dem Appell-Ohr aber: „Ich soll ihn jetzt sofort rausbringen.“
-
„Was ist das Grüne in der Soße?“ – weiteres klassisches Beispiel(Wikipedia)
- Sach: Da ist etwas Grünes.
- Selbstoffenbarung: „Ich weiß nicht, was es ist.“
- Beziehung (von der Köchin so gehört): „Dir schmeckt es nicht / ich koche schlecht.“
- Appell (so interpretiert): „Lass das das nächste Mal weg.“
Die Antwort kann dann gereizt ausfallen – obwohl der Sender nur informieren wollte.
Du siehst: Missverständnisse entstehen, wenn Sender und Empfänger verschiedene Seiten betonen – oder mit einem „überempfindlichen Ohr“ hören (z. B. ein sehr sensibles Beziehungs-Ohr).
4. Praktische Anwendung: Wie du das Modell nutzen kannst
Das Vier-Ohren-Modell ist kein akademisches Spielzeug, sondern ein sehr praxistaugliches Reflexionswerkzeug – in Partnerschaft, im Beruf, in Teams, in Therapie, Coaching und Führung.(DIE ZEIT)
4.1 In Partnerschaften
-
Paarkonflikte entzünden sich oft an Kleinigkeiten („Du hörst mir nie zu“, „Immer muss ich…“).
-
Mit dem Modell kannst du bewusst unterscheiden:
- Was ist der Sachinhalt?
- Was sagt der andere über sich?
- Was sagt er über uns / mich?
- Was will er von mir?
Konkrete Übung: Wenn du dich verletzt fühlst, frage dich:
„Auf welchem Ohr habe ich gerade gehört?“ „Gibt es auch eine harmlosere Interpretation auf einem anderen Ohr?“
4.2 Im beruflichen Kontext und in Teams
Gerade in Projekten, Meetings und Change-Situationen hilft das Modell enorm:
-
Ein Chef sagt: „Das Ergebnis ist noch nicht da, oder?“
- Sachlich: Nachfrage nach Status.
- Beziehung/Appell (so gehört): „Du bist zu langsam, du enttäuschst mich.“
-
Eine Mitarbeiterin sagt: „Das schaffen wir nie bis Freitag.“
- Sachlich: Zweifel an der Machbarkeit.
- Selbstoffenbarung: Überforderung, Stress, Unsicherheit.
- Appell: „Bitte ändere die Prioritäten / Frist.“
Führungskräfte können lernen:
- klarer auf der Sachebene zu formulieren,
- eigene Bedürfnisse als Ich-Botschaften zu bringen,
- das Beziehungs-Ohr sensibel zu nutzen, ohne alles persönlich zu nehmen.(Personio)
4.3 In Beratung, Coaching, Therapie
Für Coaches, Therapeuten, Berater ist das Modell seit Jahren ein Standard:
- Es hilft, Botschaften differenziert zu hören, statt vorschnell zu urteilen.
- Klienten können erkennen, wie sie selbst Botschaften formulieren, die Missverständnisse erzeugen.
- Das Modell lässt sich gut visualisieren (Quadrat, vier Ohren, vier Schnäbel) und mit Beispielen aus dem Alltag füllen.
5. Grenzen und Kritik am Vier-Ohren-Modell
So hilfreich das Modell ist, es ist nicht ohne Kritik. In der Literatur werden u. a. folgende Punkte diskutiert:(Thieme)
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Vereinfachung komplexer Kommunikation
- Kommunikation ist hochkomplex, eingebettet in Kultur, Machtverhältnisse, Situationsdynamik.
- Das Vier-Ohren-Modell reduziert diese Komplexität auf vier Kategorien – das ist didaktisch genial, aber theoretisch grob.
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Unschärfe der Kategorien
- In der Praxis überlappen sich die Ebenen.
- Manchmal ist schwer zu entscheiden: Ist das jetzt eher Selbstoffenbarung oder Beziehung?
- Es bleibt interpretativ – also subjektiv.
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Vernachlässigung von Macht und Kontext
- Das Modell ist relativ „neutral“: Es sagt wenig darüber, wie Macht, Hierarchie, gesellschaftliche Rollen, Geschlecht, Kultur die Kommunikation prägen.
- In realen Organisationen spielen diese Faktoren eine Riesenrolle.
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Gefahr der Überinterpretation
-
Wer das Modell frisch gelernt hat, neigt dazu, jede Äußerung überzuanalysieren:
„Was war jetzt dein Appell? Was hast du über unsere Beziehung gesagt?“
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Das kann Kommunikation sogar verkomplizieren, wenn es dogmatisch eingesetzt wird.
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Nicht als „Wahrheitsmaschine“ geeignet
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Das Modell hilft beim Reflektieren, aber es sagt nie:
„So ist es objektiv gewesen.“
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Es bleibt ein Hilfsmodell, kein Werkzeug, um anderen ihre „wahren Absichten“ zu beweisen.
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Trotz dieser Kritikpunkte gilt das Vier-Ohren-Modell in Pädagogik, Coaching, Therapie und Unternehmenspraxis als eines der anschaulichsten und alltagstauglichsten Modelle zur Erklärung von Missverständnissen.(intrapsychisch.de)
6. Wie du das Modell für dich nutzen kannst
Einige konkrete Anwendungsideen für deinen Alltag:
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Beim Sprechen
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Frage dich vor heiklen Gesprächen:
- Was ist meine sachliche Botschaft?
- Was will ich über mich mitteilen?
- Welche Beziehung will ich ausdrücken?
- Welchen Appell habe ich – und will ich ihn offen sagen?
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Beim Zuhören
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Wenn dich etwas triggert, halte kurz inne und frage:
- Habe ich gerade vor allem auf dem Beziehungs-Ohr gehört?
- Gibt es auch eine sachlichere Lesart?
- Was könnte der andere über sich preisgeben, statt über mich zu urteilen?
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In Konflikten
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Lass dir vom anderen die Botschaft noch einmal auf den vier Ebenen erklären:
„Was war dir sachlich wichtig?“ „Was wolltest du über dich sagen?“ „Was wolltest du mir über unsere Beziehung zeigen?“ „Was sollte ich konkret tun?“
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In Teams & Organisationen
- Nutze das Modell in Workshops oder Retros, um Kommunikationsmuster sichtbar zu machen.
- Erarbeite gemeinsam, wie Appelle klarer, Selbstoffenbarungen ehrlicher und Beziehungssignale respektvoller gestaltet werden können.
7. Fazit
Das Vier-Seiten- bzw. Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun ist so erfolgreich, weil es eine komplexe Realität radikal vereinfacht, ohne dabei völlig an der Wirklichkeit vorbeizugehen:
- Es zeigt dir, warum Menschen sich missverstehen, obwohl alle „das Gleiche“ zu hören glauben.
- Es macht bewusst, dass jede Äußerung mehr ist als eine reine Sachinformation.
- Es lädt dich ein, achtsamer zu sprechen und differenzierter zu hören – sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld.
Nimm das Modell nicht als starre Wahrheit, sondern als Landkarte, die dir hilft, dich im Gelände der menschlichen Kommunikation besser zu orientieren. Je bewusster du deine eigenen „Ohren“ kennst und je klarer du sendest, desto weniger wirst du von Missverständnissen überrascht – und desto leichter werden echte Begegnung, Klarheit und Respekt möglich.
Quellen und Literaturhinweise
- Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden. Band 1: Störungen und Klärungen. Psychologie der zwischenmenschlichen Kommunikation. Rowohlt, Reinbek 1981.(Wikipedia)
- Website von Friedemann Schulz von Thun: „Das Kommunikationsquadrat“ (Modellbeschreibung und Visualisierung).(Schulz von Thun)
- Wikipedia-Artikel „Vier-Seiten-Modell“ (Überblick, Beispiele, Einbettung in andere Modelle wie Watzlawick und Bühler).(Wikipedia)
- Jessica Röhner, Astrid Schütz: Psychologie der Kommunikation, 3. Auflage, Springer 2020 (Einführung in Kommunikationsmodelle inkl. Schulz von Thun).(Wikipedia)
- Fach- und Praxiskritik zum Vier-Ohren-Modell, u. a. in: Thieme Connect – „Missverständnisse – Vier Ohren hat der Mensch“ (Diskussion der Reduktion komplexer Prozesse auf vier Ohren).(Thieme)